Der Kirchenführer

 

Der spätgotische Chor

An einem östlichen Außenpfeiler an der Straße steht lateinisch die Jahreszahl 1947. In diesem Jahr, drei Jahre nach dem großen Stadtbrand, wurde wohl der Chor mit der neuen Kirche fertiggestellt. Nach dem Merian'schen Kupferstich von Wildberg von 1643 war es eine dreischiffige Basilika. Der Chor ist bis heute erhalten geblieben. Er hat ein sechsteiliges Rippengewölbe. Die drei Schlusssteine zeigen Christus mit seinen Wundmalen, Maria als Muttergottes mit dem Jesuskind und über der Orgel St. Martin auf dem Pferd und mit Schwert. Baumeister der Kirche von 1467 war Auberlin Jörg, der Erbauer der Stifts-, Leonhards- und Spitalkirche in Stuttgart und anderer Kirchen im Land. Zehn verschiedene Steinmetzzeichen, einige mehrmals, kann man an den Rippenbögen des Chores entdecken. Sie weisen auf ebenso viele Steinmetze hin, die am Chor gearbeitet haben.

Das "Jerusalemfenster", ein modernes Fenster an der Südwand des Chores, aus dem Jahr 1976, stammt wie das Martinsfenster von W. Wiedmann und V. Saile. Gut zu erkennen ist rechts oben die Stadt Jerusalem. Das Fenster abstrahiert in zehn Bildern die Geschichte vom barmherzigen Samariter im Lukasevangelium. Die anderen vier Fenster im Chor haben unterschiedliches gotisches Maßwerk. Ein silberner, vergoldeter Mess- und Abendmahlskelch von 1469 wurde 1933 ins Landesmuseum nach Stuttgart verkauft. Von der Nordwand des Chores führt eine Tür in die Sakristei. Links neben der Türe ist eine Aussparung in der Mauer, verschlossen mit einem Gitter. Sie war vermutlich ein Reliquiar. Aber auch als Hostienbehälter, als Tabernakel könnte sie bis zur Reformation gedient haben. Die Sakristei ist kleiner als der Chor, hat aber dasselbe Rippengewölbe aus dem Jahr 1467. Der einzige Schlussstein ist flach und heute ohne ein Motiv.

Unter der Orgelempore sind zwei Epitaphe und eine Gruftabdeckung aus dem Jahr 1266 an der Wand aufgestellt. Darüber Näheres im Kapitel "Epitaphe" und dem Abschnitt über die Geschichte der Martinskirche. An der Nordwand des Chores hängt eine Tafel mit dem Namen aller Pfarrer seit der Reformation.

 

Die Orgel

Sie stand einst im Kirchenschiff in der Nähe der Kanzel. Dort an der Nordseite war sie der Kälte und Feuchtigkeit ausgesetzt und wurde 1654 nach dem 30-jährigen Krieg in den Chor verlegt. 1772/73 wurde eine neue Empore im Chor errichtet. Zur selben Zeit schuf Orgelbaumeister Joh. Weismar aus Bondorf die neue Orgel mit einem Rokokoprospekt. 1976 wurde das Gehäuse des Pfeifenwerks von Orgelbaumeister Hans Stehle erneuert. Das Hauptwerk (I. Manual) wurde übernommen und die Orgel von 12 auf 21 Register erweitert (Dr. Ingenhoff). Der Prospet blieb der alte. Er wurde marmoriert und vergoldet. Die neuen Prospektpfeifen sind aus Zinn hergestellt.

Ob vor der Reformation (in Alt-Württemberg 1534) in der Martinskirche schon eine Orgel erklang, kann man nur vermuten. Auf jeden Fall gab es eine in Wildberg, nämlich im Dominikanerinnenkloster Reuthin. 1579 kam sie auf Befehl Herzog Ludwigs in die Stiftskirche nach Herrenberg, wo sie bis 1736 den Kirchengesang begleitete.

 

Das Untergeschoss des Turmes

Ein Raum im Untergeschoss des Turmes in der Südostecke des Kirchenschiffes ist von diesem durch zwei offene Tore zugänglich. In seiner Mitte steht ein zweiter Taufstein, ein Geschenk der evangelischen Kirchengemeinde Möttlingen nach Beseitigung der Kriegsschäden im Jahr 1955. Das farbige Fenster ist aus dem Jahr 1934 zum Andenken an die Gefallenen des ersten Weltkriegs. Wir sehen in sechs Bildern Jesus als den Gekreuzigten, Gestorbenen und Auferstandenen. An den Wänden stehen fünf Epitaphe, das älteste von 1561.

 Die Epitaphe

Auf dem Epitaph im Langhaus neben dem Seiteneingang der Kirche ist zu lesen: Anno Domini 1595. Den 25. Tag Novembris. Um 12 Ur vormittag hat der almechtig Got aus diesem zergencklichem Leben und Jammertal zu seinen götlichen Gnaden seliglichen erfordert den ernhafften und achtparn Geörg Beren, gewesnen Burgenmaister zu Wilperg. Der allhie begraben. Demselben wölle sein göttlich Allmacht ein fröliche Ufersteung mit allen Auserwelten verleihen. Amen.

Das zweite Epitaph an der Turmwand würdigt einen Dekan: Ruhestatt Johann Konrad Linsenmann, welcher geboren zu Böblingen den 21. August 1644 als Preceptor collegierend Prediger im Kloster Maulbronn Prarrer zu Oblbrom, Heßigheim und Haiterbach, Specialis superintendens zu Wildbad und Wildberg. Gott der Kirchen und gemeinen Wesen mit dreu Eifer und Fleiß 35 Jahr gedient, gegen dein Nechsten liebreich und aufrichtig. Im Umgang exemplarisch, in Verfolgung standhaft. In Kreutz geduldig, in guter Ehe dreißig, in allem christlich gelebet sechzig Jahr. Selig im Glauben auf Christum verschieden den 21. Septembris anno 1704. Zu wohlverdientem Gedechtnis setzt dieses die Wittib Anna Maria debohrene (1) Essieben (?), welche selig nachgefolget den 17. Aprilis anno 1726 zu Stuttgardt.

Im Chor befinden sich zwei Epitaphe. Das eine hat folgende lateinische Inschrift: D-O-M-S (Deo Optimo Maximo Sacrum) Anno Domini 1617 10 Maii pie (fromm) in Christo abdormivit (entschlafen) venerantus et doctus vir D(ominus) M(agister) Georgius B e s e r ecclesiae huius diaconus (Diakon dieser Kirche) cum vixisset (gelebt hatte) annos 28 cui laetam largiri velit resurrectionem Deus unus et trinus benedictus in omne aeuum Amen

 Auf dem andern Epitaph heißt es: D-O-M-S Anno 1643 den 13. April ist in Gott selig entschlafen der wohledelgebohrne Antonius Wilhelm von Spahr des wohledlen gestrengen Antoni Sparren vom Haus Tramp des leblischen mercischen Regiments bestelten Ritmaisters funfvierteljahriger Sohn dem Gott ein froliche Auferstehung verleihe  Amen

 Die Epitaphe im Untergeschoss des Turmes:

1) Anno 1785 den 15. September um 12 Uhr am Mittag ist zu Gott dem Herrn seliglich entschlafen die edle und duginierte (?) Frau Annan von Ostt... geborene Marscheckin von Ebnethi

2) Nächst diesem Stein schläfft im Friden nach dem Streitt der weiyland Hoch Ehrwürdige nun aber Seelige Herr M. Christian Fridrich Vischer, welcher ge. zu Stuttgardt anno 1603 den 20. November und hernachmals Treu in dreyen Kirchen, zu Urach, Hornberg und Wildberg dem Herrn gedient 26 Jahr. Zwey drittel davon an einem Ort als Diaconus, ein drittel an zweyen als Decanus. Aus der streitenden Kirche wurde Er durch den Tod versetzt in die Triumphierende anno 1747 den 10. Jan. Nun hat Er überwunden, Laßt uns streiten. Er ist verordent, Laßt uns Hoffen. Wer im Glauben stehet und stirbet, der Sieget wann er Lieget, Seine Crone ist die Ewigkeit. Text funebr, Luc. 11 20 - 32, Herr nun lässest du deinen dienerin Friden fahren.

3) Anno domini MDCXXII (1622) den XXVI Aprilis ist in Gott vershiden die edle und tugendreiche Fraw Regina Magdalena Hüngerlerin, Hernn Georg Behren, Burgermaister zu Wildberg selligen hinderlasn Wittib ihres Alters im vierzigsten Jahr, deren verstorbnen Leichnam der Allmechtige ein fröliche Uferstehung verlihen wolle.

4) Anno Domini 1573 den 23. Tag des Monatzs May um 12 Uhr vor Mttag hat der almechtig Got aus disem zergenglichen Leben und Jammerdal zu seinen getlichen Gnaden seliglich erfordert den ervesten und achtbarn alten Matheus Heller gewesner Keller (Vogt) zu Wilberg der alhie begraben Denselben wele sein gotliche Almechtigkeit ein freliche Aufersteung mit allen Auserwelten verleihen  Amen

5) Ano Domini MDLXI 81561) am Tag Elisabeta starb die erber (ehrbar) und tugendsam Frau Elisabeta Kelerin von Schwebischen Gmind Mathei Helers Kellers zu Wiltberg eliche Hausfrau der Got ain frelliche Uferstehung geb   Amen

 

Die Kirchenglocken

Erstmals nach dem Krieg läuteten 1976 im Turm der Martinskirche wieder vier Glocken.

Die erste und große Glocke ist die Martinsglocke. Sie ist die älteste Glocke und hat den großen Stadtbrand 1464 und beide Weltkriege überstanden. Am oberen Kranz trägt sie die Jahreszahl 1439, die Namen der vier Evangelisten und des Heiligen Martinus als Kirchenpatron. Dazu die Worte: "hilf Got und Maria". Auf dem Mantel sind zwei Reliefs: Maria mit dem Kind und der Gekreuzigte.

Die Glocke hat einen Durchmesser von 1,36 Meter un dist 1600 kg schwer. Der Glockenton ist g'. Als Dominika (Herrenglocke) wird sie nur bei vollem Geläute zum Gottesdienst verwendet. In beiden Weltkriegen mussten auch Wildberger Glocken als "Metallreserve" abgeliefert werden. So wurde am 09.04.1942 zusammen mit einer Glocke aus dem Jahr 1919 die älteste Wildberger Glocke im Turm zerschlagen und die Trümmer zum Einschmelzen weggeschafft. Sie war etwas kleiner als die Martinsglocke und wog 1000 kg. Ihre Inschrift "Osanna heis ich... Gottes Er leut ich... Bernhart Lachamann gos mich 1411".

Die zweite Glocke ist die schlesische Glocke, auch "Leihglocke" genannt.

Sie stammt aus Seidenberg,Kreis Lauban, in  Schlesien und wurde 1952 der ev. Kirche in Wildberg „geliehen“. DieFlüchtlinge und Vertriebenen glaubten damals noch an die Rückkehr in ihre schlesische Heimat.

Die Glocke trägt die Jahreszahl 1596 mit den Wappern der „Redern und Haubitz auf Alt-Seidenberg“. Der Glockenton ist b’. Sie läutet als Betglocke um 12 Uhr, beim Abendläuten, während des Vaterunsers und als Zeichenglocke eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst. Die dritte Glocke, die Heimkehrerglocke, wurde von den Heimkehrern (Ortsverband) aus der Kriegsgefangenschaft 1953 gestiftet und von Heinrich Kurtz (Stuttgart) gegossen. Am oberen Kranz steht: „Den Kriegsgefangenen, Gefallenen und Vermissten zum Gedächtnis, den Lebenden zur Mahnung. Die Heimkehrer aus zwei Weltkriegen 1914 – 18, 1939 – 45, Wildberg, Weihnachten 1953. Ihr Ton ist c’. Sie dient als Kreuzglocke und Schiedsglocke. Sie läutet um 12 Uhr (Finsternis bei der Kreuzigung) und um 3 Uhr nachmittags (Todesstunde Jesu).

Die vierte Glocke, die Auferstehungsglocke, läutet seit Ostern 1976 und wurde von der Fa. Rinker in Sinn bei Wetzlar gegossen. Sie trägt die Inschrift „Jesus Christus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Joh. 11, 25“ Ihr Ton ist ein helles d’. Sie ist die Taufglocke, läutet also während der Taufhandlung und während der Einsegnung der Konfirmanden und kann an Ostern als Zeichenglocke (Zeitglocke) eingesetzt werden.

Das Vierergeläute g-b-c-d erklingt zum Einläuten des Sonntags und des neuen Jahres und als Einladung zum Gottesdienst und zu Trauungen.

Das Dreiergeläute b-c-d setzt ein Zeichen vor Beerdigungen, zur Aussegnung oder Überführung zum Friedhof.

Der Glockenturm der 1965 eingeweihten katholischen Liebfrauenkirche erhielt 1987 ein Dreiergeläute, abgestimmt auf das Geläute der evangelischen Martinskirche.

 

Das Pfarrhaus

In unmittelbarer Nähe der Kirche, gegenüber dem modernen ev. Gemeindezentrum, steht das Pfarrhaus, das frühere ev. Dekanat. 1979/80 wurde es zuletzt renoviert und das schöne, alte Fachwerk freigelegt. Zwischen Pfarrhaus und Kirche steht das frühere „Helferhaus“, einst Wohnsitz des Diakons (Helfer) für Effringen und Schönbronn. Heute ist es ein Wohnhaus und Blumengeschäft.

 

Andere Kirchen in Wildberg

Eine neue katholische Kirche steht beim alten Friedhof auf der Au (heute Calwer Straße). Sie wurde 1965 „Unserer lieben Frau“ geweiht. So genannt nach einer Pfründe gleichen Namens mit Kapelle von 1474 bei St. Martin.

Eine neuapostolische Kirche liegt oberhalb des alten Friedhofs am Markweg.

1971 und 1975 kamen durch die Gemeindereform vier Gemeinde des früheren Amts und Oberamts Wildberg zur heutigen Stadt Wildberg und damit weitere vier evangelische Kirchen. Die spätgotische Effringer Kirche von 1380 – 1500 mit ihren Fresken gilt als eine der schönsten Dorfkirchen des Landes. In Schönbronn wurde 1776 eine Kapelle zur Kirche erweitert. Die wehrhaft gebauten und mit Mauern umgebenen Kirchen in Gültlingen und Sulz haben romantische Bauteile.

 

Zur Geschichte der Martinskirche

Im Mittelalter

Die Wildberger Stadtkirche ist eine Martinskirche. Urkundlich wurde sie als solche erstmals 1450 erwähnt. Die Kirchen benachbarter Siedlungen am östlichen Rand des Schwarzwaldes und im oberen Gäu wurden planmäßig denselben vier Patronen geweiht (nach Decker-Hauff): Michael, Martin, Mauritius und Maria und bilden jeweils eine Gruppe. Im Bereich der heutigen Stadt Wildberg waren dies die Kirchen in Untersulz, Gültlingen, Obersulz (besteht nicht mehr) und Effringen. Wildberg ist als Burgsiedlung erst im 13. Jahrhundert entstanden. Seine Kirche erhielt wie vordem Gültlingen und Oberjettingen St. Martin als Schutzheiligen. Martin war römischer Offizier, wurde Christ und erfolgreicher Verbreiter des Christentums in Frankreich, zuletzt als Bischof von Tours an der Loire. Er starb um das Jahr 400. Sein Mitleid mit einem Bettler und die Teilung seines Mantels sind bekannt. Im Chor der Wildberger Kirche steht eine stark abgetretene Gruftabdeckung aus rotem Sandstein. Sie ist schwer lesbar. Frau Neumüllers-Klauser hat sie entziffert: CLAUDOR IN HOC BUSTO VENIAM (DE) IUDICE IUSTO QUI TRANSIT POSCE IN TUBOLO TUZZELINGERIUS FRATER FRIDERICI VICEPLEBANI ANNO DNI MCCLXVI (1266).

Übersetzt heißt es: Eingeschlossen bin ich in diesem Grab. der Du vorübergehst, erflehe Verzeihung vor einem gerechten Richter. In diesem Grab (ruht) Tuzzelingerius, der Bruders Vizeplebanus (Leutpriester) Friedrich. Im Jahre des Herrn 1266.

Der "Vize-Geistliche" Friedrich ist auch als Zeuge in einer Urkunde vom 03.07.1277 erwähnt. Man darf daraus schließen, dass zu dieser Zeit Wildberg bereits eine Kirche an derselben Stelle wie heute hatte, da der Unterbau des heutigen Kirchturms baugeschichtlich aus romanischer Zeit stammt. Wildberg wurde erstmals 1237 in der Gründungsurkunde des Klosters Kirchberg bei Haigerloch erwähnt und entstand in dieser Zeit als Burgsiedlung samt seiner Kirche.

Die Kirchen von Wildberg und Umgebung gehörten zum Bistum Konstanz. Das Stadtgebiet links (westlich) der Nagold war einst Effringer Markung. So wäre eigentlich die nahe gelegene Effringer Kirche als Mutterkirche der neu entstandenen Wildberger Kirche in Frage gekommen. Doch Schirmherr in Effringen war das Kloster St. Georg in Stein am Rhein im Thurgau (heute Schweiz), datiert auf das Jahr 1005. Dagegen gehörte die Kirche im benachbarten Sulz dem Landesherrn. So wurde die Sulzer Michaelskirche Mutterkirche der Wildberger Martinskirche. Das Patronat beider Kirchen, d. h. das Recht, die Pfarrstellen zu besetzen und die Einnahmen aus den Kirchengütern zu erhalten, wurde 1377 von den Hohenberger Grafen als Landesherren an das Kloster Reuthin verkauft. Dazu gehörte der große Untersulzer Widdumhof mit Zehntscheuer und verschiedenen Gebäuden, aber auch Ackerland auf dem Wildberger Käpfelesberg. 1392 wurde die Martinskirche selbstständig.

Besonders im 15. Jh. wurden, wie überall im Land, auch in Wildberg Stiftungen gegründet zum eigenen Seelenheil und dem der Gläubigen. Es entstanden Altar- und Kapellenpfründen zur Fürbitte und zum Unterhalt des Pfarrers und der sieben Wildberger Kaplane.

Es gab bis zur Reformation eine Gruft-Kapelle der Kirche, eine Liebfrauenkapelle auf dem Beinhaus im Kirchhof, eine Diebholzkapelle auf der Au, eine Heilig-Kreuz-Kapelle auf dem Effringer Feld (genauer Platz ist bekannt), eine Kapelle in der Beginnen-Klause (Turmgasse) und eine sehr alte Nikolauskapelle im Kloster Reuthin.

Altarpfründen waren gewidmet den Heiligen Peter und Paul, Nikolaus, Michael, Leonhard, Maria, Endres (Andreas) und Erhard.

 

Die Martinskirche nach der Reformation

Wildberg gehört seit 1440 zu Württemberg. Mit Einführung der Reformation durch den württembergischen Herzog Ulrich im Jahre 1534 wurden in der Martinskirche evangelische Gottesdienste gehalten. Die Pfründen wurden abgeschafft und die Kapellen abgebrochen. Das Vermögen von Kirche und Pfründen kam in den "Kirchenkasten" und wurde der geistlichen Verwaltung unterstellt. Als "Hauptpfarrer" wurde 1536 Andreas Keller eingesetzt, der 1551 erster evangelischer Dekan (Superintendent) in Wildberg wurde. Ein Diakon (Helfer) versorgte ab 1543 von Wildberg aus die Kirche in Effringen mit Schönbronn. Das Wildberger Dekanat bestand bis 1821, die Helferstelle für Effringen bis 1814. Der Kirchhof mit Beinhaus wurde 1586/88 aufgegeben. die neue Begräbnisstätte wurde laut Baurechnung am anderen Nagoldufer auf der Au vor der Stadt angelegt. 1609/12, unter dem Keller (Untervogt) Jörg Vischer wurde die Kirche erweitert und renoviert. Wie schön erwähnt, hatte sie nach Merian 1633 die Form einer Basilika. Der ganze Turm mit dem spitzen Dach war viereckig. Heute ist das obere Geschoss mit der Glockenstube achteckig auf den alten romanischen, viereckigen Unter- und Mittelbau aufgesetzt und gehört als Besonderheit zum Stadtbild. In der Zeit des 30jährigen Krieges waren zwei bekannte Persönlichkeiten als Dekane (Speciale) in Wildberg: Daniel Osiander und Johann Konrad Zeller.

Während der Franzosenkriege (Melac) erhielt der Kirchturm 1691 ein neues Dach, an der Spitze mit einem Hahn und einer vergoldeten Kapsel. Dazu vier vergoldene "Knöpfe" auf den Spitzen von vier Nebentürmchen, die auch auf dem Merianstich angedeutet sind. In die Kapsel wurde ein Bericht eingelegt über die Instandsetzung und das Zeitgeschehen, die "Kriegsunruh". 1787 kam ein weiterer Bericht hinzu, als in einer Sturmjahr Hahn und Kapsel herabgestürzt waren. Weitere Urkunden wurden hineingelegt 1909 bei Ausbesserung von Schäden am Dachgebälk, 1952 bei Ausbesserung der Bombenschäden vom 22.02.45 und 1986 bei der Außenerneuerung der Kirche.

Das Stadt- und Amtsarchiv Wildberg wurde 1687 in einem Anbau der Kirche untergebracht und nach dem Neubau des Kirchenschiffes 1772/73 auf dem Dachboden. Dort blieb es bis 1933. Das umfangreiche Archiv mit noch mittelalterlichen Urkunden ist jetzt im Staatsarchiv Stuttgart.

 

Die Martinskirche im 18. - 20. Jahrhundert

In den Jahren 1744 - 61 wurde immer wieder versucht, die baufällige gewordene Kirche durch Reparatur zu erhalten. 1769 fiel eine Mauer des Langhauses ein. Eine Prüfung ergab, dass das ganze Gemäuer durchgängig schadhaft sei. Die Stockmauer sei nur mit Erde und Sand ausgefüllt gewesen und das Dachstuhlgebälk nur noch etliche Zollbreit aufgelegen und gänzlich faul. Der Kirchenbaumeister Götz stellte fest, es ist nicht mehr zu reparieren. Weitere Mauern mussten wegen Einsturzgefahr abgebrochen werden, später auch die "Manns- und Weiberstühle", wie es in einem Bericht heißt. Die Gottesdienste wurden in die Kirche des ehemaligen Klosters Reuthin am Fuß der Wildberger Oberstadt verlegt.

Im Landeskirchlichen Sprengelarchiv in Tübingen ist das alles nachzulesen. Die "arme Commun" konnte die Baukosten für einen Neubau der Kirche unmöglich aufbringen. Da verordnete der württembergische Herzog Carl Eugen eine "Zwangscollecte" bei den "vermöglichen" Spitälern, Städten und Ämtern des Landes. Das herzogliche Kloster Reuthin und die herzogliche Rentkammer gaben etwa 10 % der Baukosten. Der Holzverkauf brachte nur wenig Geld ein. So entstand 1772/73 eine neue, einschiffige Hallenkirche, eine Neu-Erbauung, wie es in den Rechnungen heißt. Der gotische Chor blieb erhalten. Auf dem Türsturz des Seiteneinganges bei der Kanzel steht außen die Jahreszahl 1772. Noch 100 Jahre später, 1870, wurde die Kirche baulich in befriedigendem Zustand befunden mit 880 Sitzplätzen, heizbar und "hörbar". 1909 musste das gelockerte Gebälk des Turmdaches repariert werden, und 1932 wurde ein schlechter Zustand der ganzen Kirche festgestellt. Alle Bettelbriefe des Pfarrers blieben erfolglos, auch in Basel und Genf. Trotzdem gelang es 1933, die schwersten Schäden zu beseitigen. Am 22.02.1945 erfolgte ein Bombenangriff auf Wildberg mit 53 Toten und Zerstörungen in der Oberstadt. Die Kirche wurde zwar nicht direkt getroffen, aber die meisten Ziegel waren vom Dach gefallen und es regnete auf die Kirchendecke. Die Fenster mit Buntverglasung und Butzenscheiben waren zerbrochen. Es gab noch lange keine Ziegel, keine Dachlatten, keine Nägel und kein Fensterglas, bis endlich das Schiff ein Notdach aus Holzschindeln erhielt und statt der Gipsdecke eine Holzdecke. Die Fensterhöhlen wurden mit Brettern vernagelt. Noch fünf Jahre später, nach der Währungsreform hatten die Chorfenster eine Bretterverschalung. 1951 wurde das Turmgebälk renoviert, und endlich konnte das Turm- und Kirchendach gedeckt werden. So wurden weitere Wasserschäden verhindert. Zwei Jahre später wurde mit Oberbaurat Ostermaier die Kirche instand gesetzt. Das Langhaus erhielt eine neue Decke mit Stuckverzierung, neue Kirchenbänke und eine neue Kanzel. Der Aufgang zur Kanzel wurde von der Sakristei ins Kirchenschiff verlegt und der Kanzeldeckel weggelassen. Der Außenverputz der Kirche musste erneuert werden. Die zwei Öfen zum Heizen der Kirche wurden durch eine zeitgemäße Warmluftheizung (Kellerheizung) ersetzt. Beim Ausheben des Kirchenbodens 1954 wurden sechs Skelette gefunden und wieder eingebettet. Zehn Jahre nach dem Bombenschaden, am Himmelfahrtstag des Jahres 1955, war feierliche Kircheinweihung. 500 Jahre Martinskirche konnten 1967 gefeiert werden. Seit dem Eisenbahnbau 1870 führt eine neue Straße vom Bahnhof her um die Kirche herum zur Oberstadt und nach Westen in den Schwarzwald hinein. Durch den immer stärkeren Verkehr ist die Kirche baulich in Mitleidenschaft gezogen. So waren Außenerneuerungen 1978 und 1985 notwendig. Nun geht die Martinskirche mit ihrem spätromanischen Turm, dem spätgotischen Chor von 1467 und dem Kirchenschiff aus dem 18. Jahrhundert inmitten der größer gewordenen Stadt als eine Stätte der Begegnung ins neue Jahrtausend, um darin Gottes Wort zu verkündigen, gemeinsam Gott zu loben, ihn zu bitten, und ihm zu danken.

 

Verfasser: Johannes Klass

Schrifttum: Landeskirchliches Sprengelarchiv Tübingen: 1772-86 Nr. 297, 500 und 1907-57, Nr. 237, 239, 243, 246, 298

Karl Neef: Unveröffentlichtes (eigenes Archiv) und "Wildberg 1950" (Verlag Lauk)

Beschreibung des Oberamts Nagold 1862 (Verlag Aue)

Hans-Dieter Frauer: Kapitel "Wildberger Kirche" in "Wildberger Chronik" von Johannes Klass (Verlag Biesinger).

Renate Neumüllers-Klauser: "Die Inschriften des Kreises Calw" (Verlag R. Reichert)

Philippus Maier: Über Wildberger Glocken

Schwarzwälder Bote vom 25.05.1955

Ulrich Boeyng: Beurteilung des Kruzifixes

Fotos: Johannes Klass und Jürgen Hartmann

Umschlagbilder von Karl Lang